Auf den Spuren von Friedrich Kaiser
Oder: Eine Reise in die Vergangenheit / Teil V
Heute: Hamm und Oeventrop / Reisebericht von Markus Trautmann
Es ist noch dämmerig, als ich die Wohnung verlasse und die Haustür abschließe. Der starken Regen des frühen Morgens hat gerade erst aufgehört, als ich das Haus verlasse. Jetzt dampft die Feuchtigkeit über der Straße, es ist merkwürdig warm, und schon jetzt liegt eine unangenehme Schwüle in der Luft. Durch das noch ruhende Städtchen radle ich zum Bahnhof, vorbei an noch ausgeschalteten Ampeln. Um 5.59 Uhr geht der Zug nach Münster. Zwar sind die Abteile gut besetzt, doch keiner der Berufspendler spricht ein Wort, es herrscht fast andächtige Stille, manche dösen, andere schauen aufs Smartphone oder blättern in der Zeitung. Ein junger Mann führt mit faszinierender Ruhe und sanfter Stimme eine „Fahrgasterhebung“ durch, geht durch den Gang, spricht stichprobenweise die Passagiere an, auch mich, und lässt sich die Tickets zeigen, fragt nach dem Woher und Wohin und sogar nach dem Warum der Fahrt. Ich antworte: Freizeit! Doch in Wirklichkeit erwarte ich allerhand von diesem Tag, habe mir wieder mal vorgenommen, die Spuren Friedrich Kaisers aufzunehmen.
Wie es sich gehört, fängt es kurz vor Münster an zu regnen, bald nach Münster wird es wieder aufhören. Ich steige in Münster um in die Bahn nach Hamm, wo ich um genau 7.00 Uhr ankomme. Die Unterführung der Geleise, durch die man in die helle und angenehme Bahnhofshalle kommt, ist durch großformatige farbige Fotoflächen dekoriert, auf denen man historische Gebäude aus Hamm, vor allem Industrieromantik sieht. Ich leiste mir ein Käsebrötchen und einen Milchkaffee. Im Bahnhofskiosk kaufe ich einige der in jeder Ruhrgebietsstadt angebotenen Ruhrpott-Ansichtskarten, auf denen witzige Kumpel-Weisheiten zum Besten gegeben und die gängigen Klischees vom Ruhrgebiet bedient werden. Ich frage die Verkäuferin, ob diese Karten überhaupt noch gehen, da doch schon bald die letzte Zeche im Revier schließen werde. „Doch, doch“, erfahre ich, „im Gegenteil. Die Nachfrage wird eher mehr.“ Ebenfalls in diesem Kiosk entdecke ich die aktuelle Ausgabe vom SPIEGEL mit einer besonders düsteren Titeldarstellung, die auf die „Gespenster“ und „Verbrecher“ der katholischen Kirche zielt.
Draußen auf dem Bahnhofsvorplatz betrachte ich eine Informationstafel mit geschichtlichen Erläuterungen und erfahre, dass Hamm schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein bedeutsamer Bahnknotenpunkt war. 1920 wurde nach langer Bauzeit endlich das heutige repräsentative Bahnhofsgebäude fertiggestellt – doch galt da der neobarocke Stil schon als antiquiert und unzeitgemäß. Das große Zifferblatt der Bahnhofsuhr vor einem barock-schwülstigen Ziergiebel wird von einem Bergmann und einem Hüttenarbeiter gehalten.
All dies hat Friedrich Kaiser in Augenschein genommen, als er 1934 von Hiltrup nach Hamm geschickt wurde, um ab dem 15. Oktober für ein gutes halbes Jahr im Herz-Jesu-Kloster an der Ostenallee 88 das Amt des Hausverwalters zu übernehmen. Wie sehr hatte er nach seiner Priesterweihe 1932 gehofft, man werde ihn in die Mission schicken! Doch seine Vorgesetzten hielten seine gesundheitliche Konstitution für zu schwach. Stattdessen erinnerte man sich, dass er doch in Dülmen „auf dem Kontor“ gewesen war: So wurde er für rd. zwei Jahre mit Tätigkeiten in der Ordensleitung in Hiltrup eingebunden, bevor er jetzt endlich auch in die praktische Seelsorge durfte.
Um zur Ostenallee zu kommen, muss ich erst die Altstadt von Hamm durchqueren. Ich passiere mehrfach weitere Infotafeln mit historischen Bildern aus der Stadtgeschichte. Die Stadt ist noch menschenleer, einzelne Anlieferer entladen ihre Fahrzeuge vor Geschäften. In der Oststraße steht ein sogenannter „Bücherschrank“ mitten in der Fußgängerzone, aus dem heraus man gebrauchte Bücher entnehmen bzw. dort hinterlegen darf. Ich öffne die Tür uns inspiziere die Ware: Mein Blick fällt auf ein wuchtiges Werk aus dem Jahre 1956. „Die Großen der Kirche“ lautet der Titel des Buches von Georg Popp, in dem über 70 katholische Glaubenszeugen in Kurzbiographien (oder besser: in expressionistischen Skizzen) vorgestellt werden. Selbstverständlich muss ich diese über 60 Jahre alte Rarität besitzen. Der Zustand ist hervorragend, offenbar wurde es von der „Kath. Pfarrbücherei Hl. Kreuz Herringen“, so der Stempeleintrag des ursprünglichen Eigentümers, nicht allzu oft verliehen. „Die Großen der Kirche – dieser Titel erhebt den Anspruch einer Auswahl“, überfliege ich das Vorwort. „Auswählen bedeutet Vergleichen und Beurteilen; jedes Urteil aber kann hier, wo sich die eigentlichen Maßstäbe menschlichem Begreifen verwehren, nur auf der Aussage der Kirche gründen und auf dem Zeugnis der Geschichte, die das Wirken und Weiterwirken jener Großen festhält.“ Natürlich stimmt das mit dem „menschlichen Begreifen“ – dennoch fällt mir spontan, sozusagen als Korrektiv oder Gegenargument, jenes Zitat eines Emmerick-Biographen ein, mit dem ich seinerzeit mein Friedrich-Kaiser-Porträt begann: „Nie dürfen wir, um Heilige zu verstehen, sie herausreißen aus dem Boden ihrer irdischen Heimat.“ Den irdischen Boden, auf dem der Lebensweg unseres künftigen Seligen Friedrich Kaiser verlief, möchte ich erkunden. Ich werde also meine „Spurensuche“ nicht abbrechen, sondern hier in Hamm fortsetzen. Ich klappe das Buch wieder zu, verstaue es auf dem Gepäckträger und verlasse die Innenstadt.
Die Oststraße verlässt die Altstadt und wird als „Ostenallee“ zu einer breiten Ausfallstraße, die zum Stadtteil „Bad Hamm“ führt. Schöne alte Häuserfassaden, gut erhalten und renoviert, und bald darauf freistehende Villen flankieren die Strecke durch eine einst wohlhabende Gegend, hin zum alten Kurpark. Ich suche die Parzelle Ostenallee 88. Hier bezogen die Herz-Jesu-Missionare 1922 das von ihnen erworbene frühere Hotel „Herbrecht und Kock“ und wandelten es zu einer Niederlassung um, die schon bald im Volksmund das „Klösterchen“ genannt wurde. Von hier aus wirkten die Geistlichen in der Volksmission und bei Einkehrtagen in der näheren und weiteren Umgebung. „Als erfolgreicher Exerzitienprediger betätigte sich auch P. Kaiser auf Norderney“, so hielten etwa die „Mitteilungen aus der Norddeutschen Provinz“ der Herz-Jesu-Missionare schon im Oktober 1934 fest. „P. Kaiser, unermüdlich tätig, intra et extra muros, potens opere et sermone (innerhalb und außerhalb des Hauses, kraftvoll in Wort und Werk; Anm.), übernahm zugleich das Amt eines Direktors der Erzbruderschaft Unserer Lieben Frau vom heiligsten Herzen Jesu an unserer Klosterkirche. Nicht zuletzt dank seinen aus Begeisterung fließenden und Begeisterung weckenden Predigten bei den Monatsversammlungen ist die Erzbruderschaft ... in gutem Aufschwung begriffen.“
Die erwähnte „Klosterkirche“ war nicht mehr als der umgebaute Tanzsaal des früheren Hotels. Es gibt sie heute nicht mehr; der gesamte Komplex wurde 1998 abgerissen. Doch da gab es schon seit rd. 40 Jahren eine „richtige“ Herz-Jesu-Kirche. Schon 1929 war ein eigenständiger Pfarrbezirk für den Hammer Osten ins Leben gerufen worden, geleitet bis 2007 von Herz-Jesu-Missionaren. Der letzte von ihnen hat erst jüngst Hamm verlassen und verbringt seinen Lebensabend in Hiltrup. Auch die 1959 errichtete moderne Herz-Jesu-Kirche an der Ostenallee 88 gibt es nicht mehr, sie wurde 2013 abgerissen. Heute steht an derselben Stelle die neugegründete Katholische Kindertageseinrichtung Herz Jesu.
Hier halte ich, stelle mein Fahrrad ab und betrete die weit geöffnete Tür der Kindertageseinrichtung. Im Flur steht auf einer steinernen Stele die Marienfigur der früheren Kirche. Ein laminiertes Blatt an der Wand erklärt Eltern und Besuchern die Bedeutung des Marienmonats Mai und die dann geplanten Aktivitäten mit den Kindern. Es ist noch keine 8.00 Uhr und außerdem sind Ferien. Nur in einem der Gruppenräume haben sich schon die ersten Kinder, vielleicht fünf oder sechs, eingefunden und plaudern mit zwei Erzieherinnen. Ich lasse mir den Weg zum Büro der Leiterin zeigen, dort treffe ich auf dem Flur Antje Herting. Ich schildere ihr mein Anliegen: Ich möchte Stätten der Herz-Jesu-Missionare erkunden, an denen sich auch Friedrich Kaiser aufgehalten hat. Ich überreiche ihr einige Flyer und natürlich das „Bilderbuch für Jung und Alt“.
Frau Herting begleitet mich durch die Einrichtung. Diese ist 2015 eröffnet worden, sie selbst ist erst seit zwei Jahren als Leiterin im Amt. Der weiträumige und helle, dreizügige Kindergarten, in Hufeisenform angelegt, orientiert sich am Grundriss der früheren Kirche: Das flache Gebäude umschließt auf drei Seiten ein Atrium, das dem Innenraum der ehemaligen Kirche entspricht. „Und die farbigen Lamellen an den Fenstern nehmen die Farbtöne der früheren Kirchenfenster auf“, erklärt mir Frau Herting. Vollständig abgetragen wurde die alte Herz-Jesu-Kirche übrigens nicht: Auf der Spielweise ragt noch die ehemalige halbrunde Apsiswand des Altarraums einschließlich der zwölf steinernen Träger der Apostelleuchter empor, gestutzt auf ca. vier Meter Höhe. Auch der Altar steht an seiner alten Stelle – nun aber ebenfalls auf grüner Wiese unter freiem Himmel. „Mich beeindruckt dieses bauliche Konzept selbst immer wieder“, meint die Einrichtungsleiterin. „Lasst die Kinder zu mir kommen, hat doch Jesus gesagt. Und jetzt spielen und versammeln sich unsere Kinder tagtäglich auf früherem Kirchenboden.“ Ich staune. „Dieser Bereich wird ja weiterhin für Gottesdienste genutzt“, erklärt Antje Herting, und das nicht nur bei Gottesdiensten mit Kindern. „In der warmen Jahreszeit findet jeden Freitagabend hier ein Gottesdienst für die Anwohner der Umgebung statt, durchgeführt von den Seelsorgern des Pastoralverbundes Hamm-Mitte-Osten.“ In einem Finanzbericht des Erzbistums Paderborn lese ich: „Auf dem Boden der Klosterkirche ist somit ein ganz neuer Ort entstanden, an dem der Glaube Platz hat.“
Die Pfarrei ist nicht mehr Trägerin der Einrichtung, sondern die Trägergesellschaft „Katholische Kindertageseinrichtungen Hellweg“. Und diese GmbH, Mitglied im Caritasverband des Erzbistums Paderborn, so erfahre ich, nimmt das religiöse Profil ihrer Einrichtungen sehr ernst. Umgekehrt sind Kirchenvorstand und Ausschüsse, Pfarrer und Seelsorgeteam nicht unmittelbar in die manchmal unvermeidbaren und belastenden personellen oder administrativen Querelen verwickelt. Eine überzeugende Neuausrichtung. Zurück im Büro von Frau Herting darf ich einen Blick in das druckfrische Dossier für die „Pastorale Zertifizierung als Familienpastoraler Ort“ werfen. Gleich auf dem Deckblatt bemerke ich das ebenfalls frisch entworfene Logo des Herz-Jesu-Kindergartens. Die Leiterin selbst hat es entwickelt: Ein schwungvoller Bogen deutet die frühere Altarwand auf der Spielwiese an und legt sich zugleich schützend um einen kleinen herzförmigen (!) roten Luftballon. Keine hohe Theologie, aber wirklich stimmig: Der Anspruch des „Herz-Jesu“-Gedankens, also die Leidenschaft unseres Gottes für uns Menschen, drückt sich nicht zuletzt in der Zuwendung zu den Kleinsten aus – und diese wird symbolisiert durch den so schlichten und zugleich so empfindlichen kleinen Herz-Luftballon.
Nach einer dreiviertel Stunde verlasse ich die Kath. Kindertageseinrichtung Herz Jesu, schließe mein Fahrrad auf und radle die Ostenallee ein kurzes Stück weiter. Auf der anderen Straßenseite liegt die Parzelle Ostenallee Nr. 101. Hier begann 1920 die Präsenz der Herz-Jesu-Missionare im Hammer Osten. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und der Abtretung der deutschen Kolonien und Schutzgebiete in Afrika und Asien an den Völkerbund bzw. an die Alliierten im „Versailler Vertrag“ waren auch die deutschen MSC-Missionare zunächst ihrer bisherigen Arbeitsfelder in der „Heidenmission“ beraubt. Also musste man sich neue pastorale Aufgabe im eigenen Land erschließen, und so kam es zu neuen Niederlassungen in Oberhausen und in Hamm: Von hier aus konzentrierten sich die Ordensleute der Norddeutschen Provinz auf die schon erwähnten „Volksmissionen“ und Exerzitienangebote in heimischen Pfarrgemeinden. Die Hammer Kirchengemeinde St. Agnes wies den Hiltruper Missionaren einen Sprengel über rd. 400 Katholiken im Hammer Osten zu. Für zwei Jahre bezogen die Patres und Brüder ein Domizil im „Haus Sylverberg“ im Kurpark. Um hierhin zu kommen, muss ich über einen schmalen Fahrweg in ein Wäldchen einbiegen, dann gelange ich in eine Art Lichtung und stehe vor Haus Sylverberg.
Ich steige die Treppen zu einer Terrasse hinauf. An der Hauswand erklärt ein knapper Erläuterungstext neben der amtlichen Denkmal-Plakette, das ursprünglich als Wohnhaus 1880 errichtete Gebäude sei „bedeutend als letztes Fachwerkhaus der ehemaligen Kurparkgebäude“. Lange Zeit war Haus Sylverberg eine Jugendherberge, seit 1991 ist das urige Gemäuer mit historischem Ambiente ein vom „Stadtsportbund Hamm e.V.“ betriebenes Jugendgästehaus, das die Eheleute Barbara Comino und Carsten Pflug betreuen. Die Herbergsmutter schmökt gerade auf der Terrasse eine Morgenzigarette, ihr Gatte, mit Küchenschürze angetan, kommt hinzu. Obwohl die Anwesenheit der Herz-Jesu-Missionare in Haus Sylverberg von 1920 bis 1922 vergleichsweise kurz war, wissen die Herbergseltern von diesem Teil der Geschichte ihres Hauses. Herr Pflug führt mich in den angebauten Saal. An den Wänden hängen unzählige Sportwimpel, die Gästegruppen hier hinterlassen haben, sowie weitere Erinnerungen, Fotos, Plakate und Pokale von gastierenden Gruppen der vergangenen Jahrzehnte. Dazwischen zeigt mir der Herbergsvater ein größeres historisches Foto ebendieses Raumes. Hier also hatten die Ordensleute ihre Kapelle eingerichtet. „In dieser Ecke soll der Altar gestanden haben“, weiß Pflug und deutet den Bereich an.
Wir verlassen das Gebäude, ich übergebe mein obligatorisches Bischof-Kaiser-Informationsmaterial und erhalte im Gegenzug einen Flyer vom Jugendgästehaus Sylverberg – auf dem „das Haus mit besonderem Flair“ beworben wird. Dann schwinge ich mich aufs Rad und fahre die Ostenallee wieder ein Stück stadteinwärts, um dann in die „Soester Strasse“ einzubiegen. Denn mein Weg führt nach Süden, genauer zum Wallfahrtsort Werl. Es ist gerade 9.00 Uhr. Gleich zu Beginn der Soester Strasse bemerke ich, dass eine „Bernhard-Ketzlick-Strasse“ nach rechts abbiegt. Ich hatte schon vor dem Herz-Jesu-Kindergarten den Namen flüchtig auf einem „Stolperstein“ in der Pflasterung wahrgenommen. Ich halte an und studiere die Erläuterungen unterhalb des Straßenschildes: Bernhard Ketzlick (1907-1951) war Herz-Jesu-Missionar und ab 1938 als Vikar im „Klösterchen“. 1941 verhaftet, war er bis 1945 im KZ Dachau, er starb einige Jahre später an den Folgen der Haft. Ketzlick war 1926 Hiltruper Missionar geworden und 1937 zum Priester geweiht worden; er und Friedrich Kaiser könnten sich im Noviziat begegnet sein.
Ich radle aus Hamm heraus, die B63 wird mich nach Werl bringen. Hinter Rhynern, schon südlich der A2 komme ich am Rande eines Industriegebiets an der Filiale einer Bäckerei vorbei. Schon von weitem entziffere ich den großen gelben Schriftzug auf rotem Grund: „Sehnsucht nach gutem Brot!“ Das klingt ja fast religiös, wie eine Predigtvorlage für Fronleichnam. Plötzlich denke ich an eine Formulierung von Bischof Kaiser, als er sich in seinem Buch „Der Ruf aus den Anden“ an die erste Begegnung mit der pastoralen Not der Indios erinnert: „Ja, hier ist Hunger nach Gott. Hungernot!“ Hunger und Sehnsucht – auch diese Begriffe können so ganz anders und fast widersprüchlich interpretiert werden.
Ich muss weiter, denn ich möchte mittags am Wallfahrtsort sein, und von dort aus das nahe Sauerland in Angriff nehmen. Also: Land gewinnen! Gegen 10.15 Uhr bin ich in Werl und nehme erst einmal in einem Straßencafe ein Zweites Frühstück ein. Danach begebe ich mich zum „Forum der Völker“, dem Missionskundlichen Museum der Franziskaner, denn dieses schließt um 12.00 Uhr. Am Eingang muss ich schellen, eine Aufsichtsperson schließt von innen auf und lässt mich eintreten. Schon häufiger war ich mit Gruppen von Jugendlichen oder Frauen hier, doch heute bin ich der einzige Besucher im Hause. Auch der agile Franziskaner ist heute nicht zugegen, der bei jeder Gruppenführung in der Ostasien-Abteilung stets die Gebetsmühlen erklärt, um bald darauf – Achtung: Wortspiel! – gebetsmühlenartig und zornig den Unverstand „der Kirche“ und die Engherzigkeit „Roms“ in der China-Mission und überhaupt zu beklagen. Ich ziehe heute also führerlos durch das weiträumige und im Stil der 1980er Jahre eingerichtete Museum und möchte sozusagen Südamerika entdecken. Südamerika ist kein Sammelschwerpunkt, wohl gibt es eine Brasilien-Abteilung, in der sehr anschaulich der Landraub und die Zerstörung des Regenwaldes dargestellt werden.
Speziell über Peru finde ich nichts, aber dann entdecke ich zu guter Letzt doch noch eine Besonderheit: Eine größere Vitrineninstallation ist dem Thema „Los Santos“ gewidmet, der in Südamerika so speziellen Verehrung der Heiligen. „Ein besonderes Element der Volksreligiosität ist in Lateinamerika die Anrufung und Verehrung von Heiligen“, lese ich in einem Begleittext. Hier im Museum sind ungefähr 100 Figürchen und rd. 50 bildliche Darstellungen zusammengetragen und nach Ländern geordnet. Auch Peru ist eindrucksvoll vertreten, durch jeweils mehrere Darstellungen der Jungfrau Maria, des hl. Josef, des hl. Antonius von Padua, der hl. Rosa von Lima, des hl. Martin de Porres – und des „Divino Nino“, also des „Göttlichen Kindes“. Ich erinnere mich: Bischof Kaiser beschreibt in seinem „Ruf aus den Anden“ diese Figur des Jesusknaben mit „Kopfbedeckung, Halstuch und Poncho, ganz wie die Kinder dieser Berge. Soweit gut.“ Doch vielerorts, so schränkt er ein, werde diese Skulptur in üppigen Festivitäten wie bei einer Sakramentsprozession verehrt. Zwar wirbt Friedrich Kaiser bei seiner deutschen Leserschaft um Verständnis für die so ganz andere religiöse Mentalität der Andenbewohner, doch gerade der peruanische Prozessionskult um das „Divino Nino“ oder den „Nino Corpus“ mit all seinen Auswüchsen empfindet er dann doch als „eine bedauerliche Mischung und das beschämende Produkt religiöser Unwissenheit und verirrtem Brauchtum“. Aber all das liest sich recht amüsant und auch liebevoll, kein zorniger Franziskaner müsste hier intervenieren.
Ich verabschiede mich von der freundlichen Dame an der Kasse. Draußen hat es zwischenzeitlich geregnet, doch ich komme trockenen Fußes bzw. Hauptes zur Basilika und besuche jetzt das Marienbild der „Trösterin der Betrübten“, das Ziel so vieler Wallfahrer seit Jahrhunderten. Auch die Herz-Jesu-Missionare aus Oeventrop und ihre studierenden Zöglinge werden regelmäßig hierher gepilgert sein. Eine golden gewandete Maria mit ihrem Kind, beide mit offenem Blick und freundlicher Ausstrahlung, laden zu Stille und Gebet ein. Nach einer Weile wird es lebendig in der Kirche, die Franziskaner versammeln sich nach und nach und stimmen um Punkt 12.00 Uhr das Angelus-Gebet und dann die Terz, das Mittagsgebet der Kirche, an. Da ich mein Brevier dabei habe, stimme ich ein. „Denk daran: Der Feind schmäht den Herrn, / ein Volk ohne Einsicht lästert deinen Namen“, so klagt Psalm 74 – und ich denke an den Bahnhofskiosk heute Morgen in Hamm und die hässliche Titelgeschichte im „SPIEGEL“ dieser Woche.
Die Terz ist zuende und ich will mich gerade zum Aufbruch erheben, da grüßt hinter mir die sonore und fröhliche Stimme von Pater Ralf, dem Prior der Franziskaner in Werl. Wir kennen uns von verschiedenen Begegnungen, als ich Gruppen aus Dülmen hierher begleitet habe. Er drängt mich, doch zum Mittagessen zu bleiben. Es geht leider nicht, ich muss weiter. Denn während ich in der Kirche war, hat es draußen sintflutartig geregnet, jetzt ist zwar wieder alles in Ordnung – doch die Dame im Museum hat bezüglich der heutigen Wetterprognose unangenehme Andeutungen gemacht. Ich verspreche dem freundlichen Prior, demnächst Zeit mitzubringen und zu einem Mittagsimbiss zu bleiben. Pater Ralf versichert mir, dass er und sein Konvent noch bis zum kommenden Jahr bleiben werden, dann aber werde die Zeit der Franziskaner als Wallfahrtsseelsorger in Werl enden.
Über dampfende Straßen verlasse ich Werl, um der Ruhr zuzustreben. Doch vorher muss ich einige Hügel bewältigen. An einem kleinen Weiler wirbt auf einem breiten und bunten Banner ein großer Schriftzug für das „Kinderschützenfest“ am nächsten Sonntag – links und rechts flankiert vom markanten Emblem einer sponsernden Sauerländer Biermarke. (Warum denke ich plötzlich an Bischof Kaisers launige Schilderungen der religiösen Anden-Volksfeste, die nicht selten in Suff und Chaos untergehen?) Auf einer Anhöhe halte ich an und schaue zurück. Ein eindrucksvolles Panorama überrascht mich: die grünen Kupferdächer der Werler Kirchen und die Weite der Soester Börde mit unzähligen Windkraftanlagen, etwas abseits dampfen die Kühltürme des Kraftwerks Hamm-Uentrop zum Himmel. Dieselben Rauchsäulen erkennt man in umgekehrter Richtung am Horizont, wenn man zwischen Dülmen und Billerbeck auf der Anhöhe von Hanrorup nach Südosten schaut.
Jetzt geht es über eine lange Strecke und steil hinab nach Wickede, und ich habe die Ruhr und damit den Ruhrtal-Radweg erreicht. Der Ruhrtal-Radweg gehört wohl zu den schönsten Freizeit-Angeboten, die Nordrhein-Westfalen zu bieten hat. Ab Fröndenberg flussabwärts sind mir von Touren mit Jugendgruppen fast alle Abschnitte vertraut; der ab Wickede flussaufwärts führende Streckenverlauf ist mir neu. Hier muss ich entlang, denn Oeventrop liegt an der Ruhr. Ich bin um 16.00 Uhr mit Ludwig Hoppe verabredet. Den Namen hat mir auf telefonische Anfrage ein Mitarbeiter des Stadtarchivs Arnsberg genannt, da Herr Hoppe Sprecher im Oeventroper „Arbeitskreis Ortgeschichte“ (AKO) ist und daher auch bestens mit der Ortsgeschichte und auch mit dem früheren Missionshaus Oeventrop vertraut.
Das „Herz-Jesu-Missionshaus“ war 1902 eingeweiht worden, nachdem sich immer mehr junge Männer meldeten, um als Priester bei den Herz-Jesu-Missionaren einzutreten. In seiner imposanten Backsteinarchitektur war das Kloster Oeventrop dem Missionshaus in Hiltrup gewiss ebenbürtig. Bis 1969 wurden an dieser theologischen Lehranstalt rd. 500 Priester ausgebildet, die hier Philosophie und Theologie studierten. In diesen sieben Jahrzehnten dozierten hier mehr als 40 Professoren; neben einer Bibliothek mit 45.000 Bänden bestand hier auch das Missionsmuseum „Schätze der Südsee“.
Friedrich Kaiser hatte seine philosophischen Studien im Kloster Freudenberg in Kleve absolviert und wechselte 1929 ins „Scholastikat“, also zum Theologiestudium nach Oeventrop.„Vom ersten Tag meiner Theologiestudien in Oeventrop habe ich viel Zeit aufs Bibelstudium verwendet“, erinnerte sich Friedrich Kaiser 40 Jahre später. „Ich könnte zur Bibel sagen: Dir verdanke ich die schönsten Stunden meines Lebens, dir das Beste, was je über meine Lippen floss.“
Vom Ruhrtal-Radweg aus lässt sich erahnen, mit welchem Aufwand das Flussbett seit vielen Jahren renaturiert wird. Ein Kontrast dazu: Auf der anderen Seite des Weges rauscht zeitweise im Abstand weniger Meter die Autobahn vorbei. Da, wo die Möhne in die Ruhr mündet und von der Autobahn überquert wird, entdecke ich an den Brückenpfeilern eine Reihe selbsterstellter Plakate: Sie erinnern daran, dass am 17. Mai 1943 über 700 Fremdarbeiterinnen aus Osteuropa, die in Baracken auf den Wiesen an der Möhne eingeschlossen waren, ertranken, als die Möhneseestaumauer zerstört und eine furchtbare Flutkatastrophe ausgelöst wurde.
Längst hat sich der Himmel bedrohlich zugezogen, erste warme Regentropfen fallen herab. Ich trete in die Pedalen, doch vor Arnsberg beginnt es stark zu regen, sehr warm, aber alles durchdringend. Ich stelle mich mehrmals unter und breche wieder auf, sobald ich glaube, es würde besser. Bei einem Halt im Dorf Uentrop zwischen Arnsberg und Oeventrop (nicht zu verwechseln mit Hamm-Uentrop), ich stehe gerade in einem Bushalthäuschen, ruft mich Ludwig Hoppe an und fragt, wo ich bleibe. Es ist gerade 16.00 Uhr, und ich bekenne, dass ich es nicht vor 16.30 Uhr schaffen werde, vermutlich eher gegen fünf. Kein Problem, die Kaffeetafel werde noch nicht abgeräumt; Ludwig Hoppe und Gerd Kessler, ein weiterer Aktivist vom „Arbeitskreis Ortsgeschichte“, werden warten. Der Regen lässt kaum nach, ich bin unschlüssig, ob ich einfach wieder losfahren soll – und bis auf die Haut durchnässt. Ich schicke ein Stoßseufzer an Friedrich Kaiser: Ich würde ganz gern endlich ankommen und im Trocknen sitzen.
Nach kurzer Zeit braust ein Auto durch den Regen heran, gibt Lichtzeichen und hält. Ein Wagen mit Fahrradhalterung, und Herr Hoppe steigt aus. „Meine Frau hat gemeint: Mensch, hol den doch ab!“ Ich bin verblüfft: Vielleicht keine nachweisbare Gebetserhörung, aber dennoch wunderbar! Um 16.30 Uhr sitze ich in einer gemütlichen und mit zahllosen gesammelten Grafiken ausgestatteten Wohnung an einem runden Tisch, zusammen mit Ludwig Hoppe, seiner Gattin Elke und Gerd Kessler. Es gibt leckeren warmen Pflaumenkuchen und heißen Kaffee.
Zunächst befrage ich Hoppe und Kessler über ihre ortsgeschichtlichen Aktivitäten. Man zeigt mir einige Computerausdrucke von künftigen Informationstafeln zur Geschichte bzw. zu markanten Punkten im Ort, ähnlich wie ich sie heute Morgen in Hamm wahrgenommen habe. (Die Farbqualität der Ausdrucke lässt etwas zu wünschen übrig, im Hintergrund müht sich der seit 2015 im Hause mitlebende Yusuf, Flüchtling aus Syrien, den schwächelnden Tintenausstoß mit Parfümeinreibungen auf die Sprünge zu helfen.) An derzeit 18 Stellen in Oeventrop sollen schon bald die Dokumentationstafeln aus Kunststoff angebracht sein und zu einem Rundgang über den „Geschichtspfad Oeventrop“ einladen. Auch die Spuren der Herz-Jesu-Missionare werden dann natürlich dokumentiert und erklärt, so an den Standorten des alten und neuen Missionshauses. Die Hiltruper Missionare scheinen im Bewusstsein der Ortsbewohner noch stark nachzuwirken; über Generationen gehörten sie zum Gemeindeleben. Zwar wurde der Hochschulbetrieb schon 1969 aufgegeben, doch 1975 wurde ein stark verkleinertes Ordenshaus als Altersheim für ehemalige Missionare und ältere Patres errichtet. Auch die Hiltruper Schwestern wirkten und wirken bis heute in Oeventrop. Während Ludwig Hoppe erst 1967 nach Oeventrop kam und die hiesige Grundschule leitete, gehört Gerd Kessler, früherer Bauunternehmer, zum örtlichen Urgestein. Schon sein Vater und Großvater betrieben eine Bauunternehmung: Der Großvater baute um 1900 das Missionshaus, der Enkel 70 Jahre später die erwähnte Seniorenresidenz. Vor zehn Jahren hat er für die Zeitschrift „Sauerland“ einen Aufsatz über das Missionshaus Oeventrop verfasst; bis in die jüngere Zeit hatte er zu verschiedenen Herz-Jesu-Missionare persönlichen Kontakt. Er schenkt mir ein Foto, das ihn vor rd. 50 Jahren in froher und zechender Runde mit verschiedenen Hiltrupern zeigt.
Ich bin angenehm aufgewärmt und gut durchgetrocknet – und ausreichend mit Kaffee und Pflaumenkuchen verwöhnt. Gerd Kessler muss weiter, und Ludwig Hoppe lädt mich zu einer PKW-Tour durch die Gemeinde ein. Unser erstes Ziel, wie könnte es anders sein, ist das Missionshaus bzw. die frühere Hochschule. Das hochaufragende Backsteingebäude liegt am Rande des Ortes auf einer Anhöhe. Die umliegenden Wohnstraßen heißen „Klosterberg“ und „Mönchsweg“. Über einen schmalen Fahrweg passieren wir zunächst den früheren Park, an dessen Existenz noch einige uralte exotische Baumriesen erinnern. Auf der Anhöhe angekommen, stellen wir den Wagen auf einer geteerten Fläche ab: Ab hier müssen wir laufen. Ein weiträumig aufgestellter Bauzaun umgibt das eigentliche Missionshaus und verhindert einen direkten Zutritt zum Gebäude. Das Haus ist verlassen und wirkt geisterhaft zwischen den im Augenblick regenschwer niedergedrückten Laubbäumen, die den Platz säumen. Nach dem Weggang der Herz-Jesu-Missionare war hier für kurze Zeit eine Einrichtung für Schwererziehbare, dann folgte für mehr als 30 Jahre eine private Klinik für Suchtkrankheiten. Danach wurde vergeblich eine Nachnutzung gesucht. Immer wieder kam es zu unerlaubtem Eindringen und Vandalismus. Vor einem Jahr verursachten Brandstifter den Brand eines Teils des Dachstuhls und des Obergeschosses. Erst jüngst wurden bei einer weiteren unerlaubten „Entdeckertour“ in dem verwaisten Komplex ungesicherte Krankenakten der früheren Suchtklinik entdeckt. Jetzt aber, so können wir uns beim Umrunden des einstigen Herz-Jesu-Missionshauses entlang des Bauzauns überzeugen, sind sämtliche Zugänge und Fensteröffnungen im unteren Bereich professionell mit maßgeschneiderten Sperrholzplatten fest verschraubt.
Der zentrale Haupteingang mit spitzbogigem Portal birgt noch immer die ursprüngliche zweiflügelige Holztür mit schnörkeligem Ziergitter. Darüber, auf Höhe des ersten Stockwerks, schaut von einem Konsolstein eine lebensgroße Herz-Jesu-Figur hinab, die Hand zum Segen erhoben. Sie ist aus grünem Anröchter Sandstein gearbeitet, ebenso wie zahlreiche Ziersäulen und Kapitellsteine an verschiedenen Fenstergalerien. Wir biegen um die Hausecke und entdecken im ersten Obergeschoss gleich eine ganze Reihe von nebeneinanderliegenden spitzbogigen Fenstern: Hier muss sich einmal die Kapelle befunden haben, in der Friedrich Kaiser im Frühjahr 1932 zum Diakon geweiht wurde. Dann sind wir auf der Rückseite des Gebäudes, wir gehen weiter über den Hinterhof, bis ein zusätzlicher Bauzaun dem Rundgang ein Ende setzt und wir umkehren müssen.
Das Gebäude ist dem Untergang geweiht, an eine Nachnutzung glauben Ludwig Hoppe und die Oeventroper nicht mehr. Der Eigentümer, so die Vermutung, werde noch warten, bis der Nutzungsvertrag für das kleine Türmchen über dem Treppenhaus ausläuft, auf dem ein Telekommunikationsanbieter eine Sendestation betreibt. Auch hier hat es vor langer Zeit übrigens schon einmal gebrannt: Bis 1949 wurde das Türmchen von einem Spitzdach gekrönt.
Im hinteren Bereich des Missionshauses weiß Hoppe einen schmalen Fußweg unterhalb eines sanft ansteigenden bewaldeten Hanges, dem Klosterwald, entlang, der zum Friedhof von Oeventrop führt. Auch dieser Friedhof wird demnächst vom „Arbeitskreis Ortsgeschichte“ eine der Erläuterungstafeln erhalten. Ludwig Hoppe führt mich zu einem eigenen Gräberfeld, auf dem rd. 40 originell gestaltete Grabsteine die Ruhestätten von Hiltruper Missionaren, Brüdern und Patres, markieren. Diese verstarben nicht in der Zeit der Hochschule, sondern erst später, bis in die jüngere Vergangenheit. In einfachen Formen hat der Bildhauer Ernst Suberg aus Elleringhausen auf je einer Grabplatte eine markante Eigenheit aus dem Leben des Verstorbenen bzw. aus seinem Wirken für den Orden festgehalten. Nicht weit davon entfernt liegen in einem eigenen Areal auch Hiltruper Schwestern bestattet.
Der Friedhof von Oeventrop liegt auf einem Geländesporn, wir gehen bis an den äußersten Rand, um von hier aus auf den Flugplatz Oeventrop und zur Ruhr hinunter zu schauen. Am Berghang am jenseitigen Ufer der Ruhr liegt das „Elisabethheim“, eine Niederlassung der Hiltruper Herz-Jesu-Schwestern, unser nächstes Ziel. Wir kehren um, verlassen den Friedhof, nehmen wieder den kleinen Waldpfad, passieren noch einmal die traurig-verlassene Anlage des alten Missionshauses, steigen in den Wagen und rollen durch den früheren Park zurück zur Hauptstraße.
Wir fahren hinunter durch den Ort, überqueren erst die Bahnschiene, dann die Ruhr, in der gerade mit schwerem Gerät Kiesbänke gestaltet und somit auch hier dem Fluss ein renaturiertes Flair zurückgegeben werden soll. Dann geht der Weg wieder bergan zum Ortsteil Dinschede, durch ein weiträumiges Wohngebiet, bis ein Hinweisschild das „Elisabethheim“ ankündigt. Wir fahren auf das Gelände eines gepflegten Altenwohnheims und stellen den Wagen ab. 1907, fünf Jahre nach Eröffnung des Oeventroper Missionshauses, haben sich die „Missionsschwestern vom Heiligten Herzen Jesu von Hiltrup“ hier angesiedelt. Zunächst betrieben sie einen Kindergarten sowie eine Handarbeits-und Hauswirtschaftsschule. „Mit dem Elisabethheim blicken die Missionsschwestern auf eine über 100jährige Verbundenheit mit den Menschen der Region und dem Ortsteil Oeventrop der Stadt Arnsberg zurück“, heißt es in einem Internet-Auftritt. „Direkt an der Ruhr gelegen mit Blick ins Ruhrtal, liegt das vierstöckige Gebäude eingebettet in das Panorama des Arnsberger Waldes.“ Obwohl das Haus deutliche Umgestaltungen erfahren hat, lassen sich durch Formen und Proportionen gut die neobarocken Anklänge der Bauzeit noch erkennen. (Ich denke an den neobarocken Bahnhof in Hamm heute Morgen.) Die Rezeption des Elisabethheims ist vorübergehend geschlossen, vermutlich weil die Schwestern zum Vespergebet in der Kapelle sind. Wir entscheiden, dass wir noch einmal wieder kommen.
Die Autofahrt geht weiter, und nach kurzer Zeit sind wir oberhalb des Ortsteils Glösingen an einer weiträumigen Wohnanlage, die ein wenig an Ferienappartements erinnert. Nachdem 1969 die Hochschule Oeventrop ihre Tore schloss, wurde die in die Jahre gekommene Immobilie 1972 zum Verkauf angeboten. Gleichzeitig planten die Herz-Jesu-Missionare an anderer Stelle eine Seniorenresidenz: mit weitem Blick über alle drei Ortsteile von Oeventrop. Doch auch dieses beschauliche Areal auf dem „Haarscheid“, ganz von Wiesen umgeben, wurde leider 2014 aufgegeben und an einen syrischen Investor verkauft, der bereits schon wieder einen Nachkäufer sucht. Die Rollläden sind heruntergelassen, die Sträucher und Bäume nicht mehr beschnitten. Ludwig Hoppe und ich steigen gar nicht erst aus, sondern fahren auf einem anderen Weg mit dem Namen „Zum Neuen Kloster“ wieder hinab.
An einer Weggabelung steht ein großes hölzernes Kreuz – inzwischen an seinem dritten Standort, wie mir mein fachkundiger Begleiter erklärt. Das Kreuz stand seit 1948 an der damaligen B7 an der Zufahrt zum Herz-Jesu-Missionshaus. Dann fand es in den 1970er Jahren eine neue Bleibe am Zugang zum neuen Klostergelände, von wo es nach der Schließung erneut versetzt wurde, dadurch aber wieder öffentlich besser wahrgenommen wird. Der holzgeschnitzte Corpus zeigt den Gekreuzigten mit einem Gewand bekleidet in erhabener Pose und mit ausgebreiteten Armen. Auf der Brust erkennt man das entflammte Herz Jesu: Sinnbild der Herz-Jesu-Verehrung.
Wir versuchen unser Glück noch einmal im Elisabethheim. Bevor wir uns zur Pforte begeben, umrunden wir zu Fuß das Altenwohnheim, das in gepflegten Rabatten und zwischen großen Bäumen liegt. An der Gebäuderückseite erkennt man den vorgelagerten Kapellenbau, wo die Schwestern offenbar gerade die Abendmesse feiern. Denn wir werden zwar jetzt eingelassen, können aber keine Ordensfrau antreffen und sprechen. Wir begnügen uns mit der Besichtigung verschiedener Bildhalter im Flurbereich, die zusammengetragene Fotos aus der Geschichte des Elisabethheims und vom Wirken der Nonnen präsentieren. Ich hinterlege meine Bischof-Kaiser-Informationen, und wir fahren wieder zurück, über die Ruhr in den Ortskern von Oeventrop. Auch hier gibt es die überall berüchtigten „Leerstände“ von Geschäftslokalen, und das besonders beklemmend ausgerechnet in der einst so belebten „Hauptstraße“.
Im Haus der Familie Hoppe bekomme ich noch einige weitere Texte zur Historie von Oeventrop und der hiesigen Herz-Jesu-Missionare ausgehändigt. Der Farbdrucker hat sein Bestes gegeben. Ich schwinge mich aufs Rad und begebe mich zum Bahnhof. Längst strahlt wieder freundlich die Sonne vom Himmel und lässt alle regnerischen Widrigkeiten von heute vergessen. Oeventrop präsentiert sich im warmen Abendlicht – und besonders schön das weiß getünchte historische Bahnhofsgebäude. Dieses wird Friedrich Kaiser bei seinen Zugfahrten nach bzw. von Oeventrop genauso wahrgenommen haben. Doch niemand muss heute mehr die Fahrkarten im Bahnhof lösen oder dort in einer Wartehalle sitzen; es gibt auf der gegenüberliegenden Seite der Geleise Fahrkartenautomaten und moderne gläserne Wartebereiche. Mein Zug rollt ein, um 19.29 Uhr fahre ich ab, zunächst das Ruhrtal hinunter, dann in Richtung Dortmund. Von dort kann ich direkt nach Dülmen umsteigen. Es ist schon dämmrig, als ich die Haustür aufschließe und die Wohnung betrete.
Literaturhinweis:
Gerd Kessler: Stationen des „Alten Klosters“ – Eine Hochschule in Oeventrop. In: Sauerland. Zeitschrift des Sauerländer Heimatbundes, ISSN 0177-8110, Jg. 2009, Heft 1, S. 25–27
Bildnachweis:
Bahnhofsuhr: Von Foto Fitti, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=52904761 · Ostenallee, Hamm: By Foto Fitti, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=53194951 · Jugendgästehaus Sylverberg mit Park: By Foto Fitti, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=53230524 · Jugendgästehaus Sylverberg, Nahaufnahme: Von Gabriel-Royce - Eigenes Werk, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=19473926 · Forum der Völker, Werl: Von Malchen53 - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=31838215 · Blick auf Werl: Von J.-H. Janßen - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=26584349 · historische Aufnahme Missionshaus Oeventrop: Sammlung Markus Trautmann · Frohe Runde mit Hiltrupern: Sammlung Gerd Kessler · alle weiteren Bilder: Privat